Shar-Tales - Kapitel 14
Kapitel 14 – der schwarze Turm
Ihre Position war ungünstig. Der Weg war an dieser Stelle schmal. Links standen die Bäume dicht, waren aber nicht hoch. Rechts neben Shar'Tel bot ein Findling einen natürlichen Schutz.
Sie war auf der rechten Seite am Vorderrad des zweiten Wagens. Auf der gleichen Seite war Gregor. Er hatte Blickkontakt mit Bill und auch mit Arkané. Alyssa war hinter dem Hinterrad des ersten Wagens in Deckung gegangen und hatte schon einen Gegner im Visier. Zann stand schutzlos hinter dem zweiten Wagen, zwar reichte sein Kampfspeer nicht allzu weit, doch hatte er es nur mit einem Bogenschützen zu tun. Insgesamt zählte Shar'Tel zehn menschliche Gegner, davon die Hälfte Nahkämpfer, die sich aber noch im Gebüsch versteckten. Ein Pfeil war genau auf Bill gerichtet, der seine Tochter neben sich schützend zurückhielt. Dieser Pfeil gehörte zu einer Person, die die Anführerin der Räuberbande sein musste.
Alle warteten auf ein unsichtbares Zeichen, um einen wahren Pfeilhagel auf die Söldner abzufeuern. Gregor nickte Arkané kaum sichtbar für andere zu. Sie erwiderte es, dann brüllte er:
„
ZUM ANGRIFF!“
Damit hatten die Räuber nicht gerechnet. Sie sollten eigentlich in der überlegenen Position sein, nun wurden sie überrascht. Ein paar Pfeile verließen doch noch ihre Sehnen. Darunter der von Alyssa, der einen Angreifer von dem Ast holte, auf dem er saß und sie lud schon wieder nach.
Zanns Gegner hatte zu spät reagiert und wurde aufgespießt. Bill und Victoria hatten sich mit einer Rückwärtsrolle in den Planwagen gerettet.
Arkané ließ ihren Kampfstab kreisen, um die heran fliegenden Geschosse abzuwähren. Während die Anführerin nachlud, schleuderte die Zauberin ihr und einer anderen Bogenschützin zwei gezielte Feuerbälle entgegen und fegte sie damit von den Beinen.
Gregor war verwundert über den Pfeil, der ihm entgegen flog, da sich dieser so langsam bewegte, dass er ihn aus der Luft angeln konnte. Die Pferde neben ihm bäumten sich verängstigt auf, doch er packte sie mit seiner Schildhand an den Zügeln, während er mit der Anderen seine Axt nach seinem Angreifer warf.
Die Pferde beruhigten sich wieder, er ließ sie los und zog seine Axt aus dem toten Körper, noch recht zeitig, um sie einem erneuten Angreifer – die feindlichen Nahkämpfer beteiligten sich nun auch am Kampfgeschehen – entgegenzuschlagen. Arkané halbierte einen, der von einem nahe stehenden Baum aus auf sie hinab sprang, in der Luft. Der Dritte - es war eigentlich eine sie - wurde von Zann gerade in die Flucht geschlagen. Shar'Tel bekämpfte zwei, die von dem kleinen Felsen auf den vorderen Planwagen gesprungen waren. Einen von beiden hatte sie mit dem Schwert an den Fersen erwischt: Er stürzte zu Boden. Der Andere war auf dem Sitz des Wagenlenkers gelandet und hinderte Shar'Tel mit einem Tritt in den Magen daran ihm hinterher zu springen. Sie kam auf dem eben Gestürzten zum erliegen. Dieser mit blutenden Füssen am Weglaufen Gehinderte hiet nun die auf ihm Liegende fest, würgte sie und hinderte sie seinerseits sich wieder ins Kampfgetümmel zu stürzen. Ohne nachzudenken rammte die Amazone ihm ihren Dolch in die Brust und atmete tief durch, als der Griff um ihren Hals sich löste.
Der eine Räuber, der mitten auf dem Wagen stand, überlegte sich, dass es keinen Sinn ergab, gegen eine Übermacht von fünf bewaffneten Kriegern zu kämpfen und suchte sein Heil in der Flucht. Shar'Tel sah einen dunklen Schatten über sich hinweg springen, während sie bequem auf einer Leiche sitzend und an den Felsen gelehnt, ihren Bauch massierte.
Das war ja klar. Immer dahin, wo es weh tut!
Die anderen vier machten auch keine Anstalten die drei überlebenden Angreifer, darunter auch ihre Anführerin, zu verfolgen.
Es ist sicherlich besser, die Fracht zu beschützen, als sich von ihr weglocken zu lassen.
Bill steckte seinen Kopf aus dem Wagen:
„
Ihr müsst sie verfolgen: sie haben meine Tochter entführt!“
Das änderte die Situation. Die Pflicht rief. Der Schmerz wurde für eine Weile vergessen. Shar'Tel setzte den Räubern nach.
Der Eine, der es bis auf den Wagen geschafft hatte, hatte sich wohl in der Intension nicht mit leeren Händen zu gehen, das wertvollste geschnappt, das er in die Finger kriegen konnte und Victoria aus den Händen ihres Vaters gerissen.
Gregor, er war schließlich der Erfahrenste, schaltete am schnellsten und koordinierte die Aktion:
„
Bill, du wirst mit den Anderen zum Gasthaus fahren und Morgenfrüh aufbrechen, sollten wir noch nicht zurück sein.“
„
Ja, aber …“
„
Die Fracht ist viel zu wichtig, sie muss unbedingt nach Duncraig. Shar'Tel und ich retten Deine Tochter, das verspreche ich.“
Mit diesen Worten verschwand er im Wald.
„
Shar'Tel warte!“
„
Aber wenn wir uns nicht beeilen, verlieren wir sie.“
„
Spar dir die Kraft. Ich weiß genau, wo sie hin flüchten. Wenn das Blätterdach mal nicht so dicht ist, kannst du es vielleicht bald sehen.“
„
Wer weiß was sie mit ihr anstellen...“
„
Gar nichts werden sie mit ihr anstellen. Sie brauchen sie, um Lösegeld zu fordern.“
Shar'Tel verlangsamte ihre Schritte zu einem Gehen. Gregor holte sie ein.
„
Wir warten den Schutz der Dämmerung ab und überraschen sie dann.“
Shar'Tel sah ihr Ziel. Über die Baumkronen erhob sich ein Turm – schwarz, voller Ruß.
Hinter umgestürzten Bäumen und Steinen gingen sie in Deckung. Hier hatten sie gute Sicht auf den Eingang des Turms. Zwei Wachen standen dort. Sie drückten mit ihrer Kleidung eindeutig die Zugehörigkeit zu der verfolgten Räuberbande aus. Sie trugen leichte Lederrüstungen und darunter langärmlige Oberteile aus grauem Stoff, dazu Kurzschwert und ein Schild, der am Ellenbogen befestigt war, eine Art Targe, mit der man Angriffe abblocken kann und trotzdem noch eine Hand frei hat. An der Schildhand war außerdem noch ein Bändchen mit schwarzen Federn befestigt.
Shar'Tel bemerkte, dass die aufeinander geschichteten Steine, hinter denen sie sich versteckten, den Überrest einer Mauer bildeten, der wohl einst zu einem Gebäude gehört haben musste, von dem nun nur noch der Turm übrig war. Ein Brand würde sowohl die Ruine als auch die Farbe des Turmes erklären.
„
Dreie hatten uns angegriffen, darunter die Anführerin, eine Kämpferin und noch ein Typ. Da vorn stehen zwei Männer am Eingang, von denen mir keiner bekannt vorkommt. Wir haben es also mindestens mit Fünfen zu tun.“
Taktik war Shar'Tel nie beigebracht worden. Die Amazonen waren auf ihrer Insel stets die Überlegenen. Da war sie dankbar, dass sie von Gregor, wie auch schon von Baldrujan etwas lernen konnte. Sie wäre ohne nachzudenken losgerannt.
„
Ich möchte auf jeden Fall vermeiden, dass sich zu viele von Denen gleichzeitig am Kampf beteiligen.“
Als die Schatten auf dem Boden kaum mehr länger werden konnten, war es Zeit die Rückholaktion zu starten. Die Wachen hatten ein Lagerfeuer entfacht und die Leuchter am Eingang entzündet. Das gab allen mehr Licht. Gregor umrundete auf der Rückseite den Turm. Shar'Tel machte sich bereit loszusprinten und scharrte dazu mit den Füßen eine Kuhle in den Boden, um beim Antritt nicht wegzurutschen.
Gregor war auf seiner Seite angekommen und weil er Shar'Tel nicht sehen konnte, hofft er einfach, dass sie bereit war. Er stürmte los.
Die beiden Räuber erblickten ihn, wollten den Angreifer aufhalten. Auch Shar'Tel grifft an und schnappte sich den, der näher an ihr dran war: so hatten sie es abgesprochen. Seinen Vorteil gegenüber den kurzen Schwertern nutzen warf Gregor seine Axt seinem Ziel entgegen. Der konnte nicht mehr ausweichen und wurde lebensgefährlich in die Brust getroffen, doch der Zweite hatte aufgeholt. Der unbewaffnete Gregor konnte nur den Angriff mit seinem Schild abwehren. Als er hinter seinem Gegner Shar'Tel auf diesen zurennen sah, stieß er ihn ein Stück zurück. Shar'Tels Schwert traf den Hals und …
blieb stecken. Gurgelnd ging der so Geschlagene zu Boden.
„
Du solltest dir echt ein schärferes Schwert zu legen!“
kommentierte der Söldner, als er seine Axt aus seinem Opfer zerrte.
„
Komm! Wir ziehen sie unter dem Fenster weg.“
Jeder griff eine Leiche unter den Armen und beide zogen sie nah an die Mauer.
Ruckartig stießen sie die Eingangstür auf, doch das Erdgeschoss war leer.
Der Kamin war aus, ein paar zerbrochene Tische standen im Raum, eine Treppe führte nach oben. Und doch, eine Stelle im Mauerwerk zog Shar'Tels Aufmerksamkeit an. Sie blinzelte. Als sie die Augen wieder öffnete, war an der Stelle ein Loch – ein tiefes schwarzes Loch in der Wand, wie ein Eingang in den Keller. Angst kroch ihre Füße hoch, unnatürliche Kälte drohte sie zu ersticken. Es war, als ob dieses Loch das abgrundtiefböse beherbergte und sie zu verschlingen drohte.
Gregor betrachtete die Stelle, die sie so entgeistert fixierte.
„
Du hast doch wohl nicht etwa Angst vor Spinnen?“
Shar'Tel sammelte sich wieder. Da war kein Loch, nur eine Spinne krabbelte an der Wand entlang.
„
Ich äh…“
Es war unwahrscheinlich, dass er das auch gesehen hatte, sonst hätte er nicht gefragt.
„
…ich sollte mich bald ausruhen.“
„
Wenn wir hier fertig sind..."
Sie gingen die Treppe hoch und stolperten in das, was wohl der Gemeinschaftsraum der Bande war. Fünf Räuber saßen da, darunter bereits bekannter Kämpfer und bekannte Kriegerin, in schäbigen Sesseln an willkürlich stehenden Tischen. Ein Bogen lehnte in Griffweite der Frau, doch der Raum war zu klein. Alle zückten ihre Kurzschwerter. Gregor war schon auf den zugestürmt, der ihm am nächsten stand, stieß ihn mit seinem Schild um, so dass dieser über den Sessel stolperte. Zwei weitere wurden durch einen geschwungen Axthieb tödlich getroffen. Er wendete sich wieder dem eben Gestürzten zu, der sich wieder aufgerappelt hatte. Shar'Tel stieß aus Gregors Deckung hervor und traf einen Weiteren in der Brust.
Nun stand noch die junge Frau allein da an der Rückwand des Raumes, das Kurzschwert fest umklammert, unentschlossen, ob sie aufgeben, oder kämpfen sollte. Gregor nutzte diese Unentschlossenheit und schlug ihr mit seinem Schild das Schwert aus der Hand. Er stieß sie noch einmal zurück, sodass sie gegen die Wand prallte und das Bewusstsein verlor.
„
Ich hasse es mir die Hände am Blut von Weibern schmutzig zu machen.“
Er nam eins der herum liegenden Kurzschwerter und rammte es ihr in den Rücken.
„
Wunder mich, dass das keiner gehört haben will.“
Die nächsten beiden Etagen waren unbelebt. Nur Betten standen dort, die Sicht ein wenig von der Treppe abgeschirmt.
Vom vierten Obergeschoss aus hörten sie Stimmen und tasteten sich leise voran. Die Stimmen drangen aus einem durch eine Tür abgetrennten Raum, der Vorraum war leer, nur eine modrige Couch und ein paar Möbel standen dort. Die beiden lauschten gespannt. Drinnen fluchte eine Frauenstimme.
„
Wenn Robbat die kleine da nich mitgenommen hätte, dann stünd'n wir jetz mit leer'n Händen da. Und Du sagst ich soll ma nich aufregen? Uns ist n Rîesenfisch durch die Lappen gegangen.“
Erstickte Laute eines Mädchens waren zu hören. Eine Männerstimme beruhigte die Fluchende:
„
Du konntest ja nicht wissen, dass er so viele starke Söldner angeheuert hat.“
„
Aber ich hab' das doch einkalkuliert. Wir war'n ihnen zwei zu eins überlegen und wir hatten Bogenschützen und die … die hat das nich interessiert. Die ham'n die Pfeile einfach … aus'er Luft gegriff'n und … und sich einen Spaß draus gemacht. Mal ganz zu schweigen davon, dass sie alle umgebracht haben.“
„
Sieh es positiv, Lissie! Mit je weniger Leuten wir teilen müssen, desto mehr bleibt für uns beide übrig.“
„
Gut. Ich habe genug gehört.“
flüsterte Gregor.
„
Victoria ist da drin. Außerdem die Anführerin, die wir ja schon kennen und noch ein Kerl. Ihn kann ich nicht einschätzen, aber ich denke er ist vom gleichen Schlag, wie die anderen Typen.
Wir stürmen einfach rein, hauen alle um und befreien Victoria. Ist doch nen toller Plan, oder?“
Ohne auf eine Antwort zu warten riss er die Tür auf.
Lissie, völlig überrascht, griff einen schwarzen Säbel, der auf dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes lag und wirbelte herum. Hinter dem Tisch saß in einem bequemeren Sessel, als die übrigen im Turm, der eben gehörte Mann. Dieser war jedoch größer und Kräftiger als der Rest der Bande. Er griff zu seiner Axt und sprang auf den großen Holztisch. Victoria lag gefesselt und geknebelt in einer Ecke. Shar'Tel attackierte die Anführerin. Mit ihrem kurzen Messer hatte diese keine Chance gegen das Zweihandschwert der Amazone. Ein Hieb an den linken Oberarm, ein Schlag auf den Kopf und noch ein Stoß in den Bauch und sie war Geschichte.
Gregor versuchte derweil dem auf den Tisch Gesprungen die Beine weg zu säbeln, doch dieser sprang, zog die Beine an – ein Wunder, dass er sich nicht den Kopf stieß – und steckte sein ganzes Gewicht in seine Riesenaxt, die zu Boden sauste …
und Gregor knapp verfehlte. Der hatte sich abgerollt und stand schon wieder auf den Beinen – gerade rechtzeitig, denn der große Kerl schwang seine schwere Axt erstaunlich schnell. Bei dem Versuch seinen Hieb abzuwehren, wurden Shar'Tel und Gregor an die Wand geworfen.
Dieser hatte sein Kriegsbeil fest umklammert, aber den Daumen gelöst. Mit ihm zeigte er Shar'Tel nach oben. Diese ahnte, was er vorhatte. Der Koloss schwang seine Axt erneut waagerecht, um einen größeren Wirkungsradius zu haben und beide in Schach halten zu können. Der Söldner nutzte dies, um unter der Klinge hindurch zu rutschen, sie mit seinem Schild nach oben stützend, traf er ihn am Knöchel, während Shar'Tel auf seinen Schild sprang und den Hünen am Hals traf. Blut spritzte aus offenen Wunden und der Bandenführer brach zusammen.