Kapitel 16 - Duncraig
In der Nacht war ein Regenschauer durch gezogen. Doch der matschige Wald hatte die Karawane nicht am Weiterkommen gehindert. Shar'Tel war feuchten Waldboden gewöhnt.
Es war früher Nachmittag als der allmählich lichter werdende Wald den Blick auf die Stadt Duncraig freigab. Bis zu den Stadttoren war es noch ein gutes Stück, welches ausgefüllt wurde durch eine sanfte Hügellandschaft, in der sich ein Feld an das Andere reihte.
Links des Weges, also von Osten und jenseits der Felder, erhob sich ein Felsmassiv, wie der Rücken eines ruhenden Drachen, dessen höchster Punkt von der Stadt einverleibt wurde. Die Stadt passte sich in den Berg als sei dieser ein Teil von ihr.
Die Felder mit ihren Braun-, Gelb- und Grüntönen ließen die Fläche wie einen riesigen Flickenteppich aussehen. Das Braun kam von schlammigen Äckern. In goldgelb strahlten die Getreidefelder und das Grün steuerten die durch den Regen saftigen Wiesen bei, auf denen braun und weiß gefleckte Tiere grasten, von denen jedes bis zu acht Zentner zu wiegen konnte. Diese Großraumgrasvertilgungseinheiten schienen Nutztiere zu sein, denn sie waren eingezäunt.
Zwar war dies für Shar'Tel, die nur ihren Wald und den Rest nur aus Erzählungen kannte, alles neu und aufregend, aber noch viel interessanter war für sie die Stadt selbst. Die Stadt war groß, größer, ja selbst 'riesig' wird dem nicht gerecht.
Runde Türme, verbunden durch hochgelegene Brücken, rings um einen zentralen Riesenkegel, prägten das Stadtbild. Die tief stehende Abendsonne tauchte den sandgelben Putz in ein warmes Orange.
Der Riesenkegel in der Mitte war unmissverständlich Regierungsgebäude und Königspalast. Die anderen Bauwerke, die sich besonders abhoben, waren die Universität, an der mit Eifer geforscht, aus- und weitergebildet wurde und die dazugehörige Bibliothek. Man könnte auch noch erwähnen, dass Duncraig einen riesigen Marktplatz hat, doch diese Erwähnung schien überflüssig in anbetracht der Tatsache, dass in wohl so ziemlicher jeder Straße der Stadt Händler ihre Ware feilboten.
Inzwischen hatten die fünf Söldner und die zwei Wagen, sowie deren Lenker, die ehernen Eichentore passiert und waren in einer solchen Straße angekommen. Diese war breit, gut ausgebaut und in der Mitte begrünt.
Erst wunderte sich Shar'Tel, als sie mitten auf dem Weg hielten, denn die beiden Lagerhäuser reihten sich optisch perfekt in den Straßenzug der Fachwerkhäuser ein, doch ein vor dem Haus aufgebauter Schreibtisch und drei weitere Söldner ließen keinen Zweifel daran, dass sie angekommen waren. Diese Wächter waren bewaffnet mit Großschwert, Hellebarde, oder Armbrust und jeder von ihnen war stark gepanzert.
„
Wir sind da.“
verkündete Bill und parkte seine Pferde vor dem offenen Tor in der nähe des Schreibtisches. Der am Schreibtisch Sitzende setzte sich seine Halbmondbrillengläser auf und ein kräftiger junger Mann verschwand im Lager, um kurz danach mit fünf Männern, die jeweils die Größe und Breite von Kleiderschränken hatten, wieder heraus zu kommen. Bill gab dem Lagermeister einen Zettel. Dieser Verglich die Liste mit einer Eignen und nickte dann. Victoria sprang vom Wagen und trat beiseite. Die anderen beiden Wagenlenker öffneten die Ladefläche und die sechs Muskelmänner entluden eine Kiste nach der Anderen. Die Söldner schätzten sich gegenseitig ab. Ihr Job war hier zu Ende, Beziehungsweise fing in der selben Nacht erst an. Shar'Tel, Gregor und die Anderen hatten jedenfalls Feierabend und drängten sich um Bill und den Schreibtisch. Jeder von ihnen erhielt seinen versprochenen Sold – einhundertfünfzig Goldmünzen.
Als sich die fünf Söldner von Bill und Victoria verabschiedeten, rief der fahrende Händler Gregor und Shar'Tel noch einmal zurück.
„
Ich habe euch noch gar nicht genug dafür gedankt, dass Ihr mir meine Tochter aus den Klauen der Räuberbande zurück gebracht habt.“
„
Ich habe kein Stückweit daran gezweifelt, dass sie mich retten, Daddy.“
„
Ich hoffe ihr habt diesem dreckigen Abschaum ordentlich den Hintern versohlt.“
„
Die werden Dir nicht mehr in die Quere kommen.“
antwortete Gregor.
„
Ja...ja eben. Die meisten Söldner konzentrieren sich nur auf das wofür sie bezahlt werden, aber ihr beiden habt euch ohne zu zögern auf sie gestürzt und wertvolle Fracht vernachlässigt, um einen Menschen zu retten. Ihr beide habt absolut richtig gehandelt.
Ich weiß, ich kann meine Dankbarkeit schlecht ausdrücken, aber ich denke diese zwei gefüllten Geldbeutel sind eine Belohnung für eine gute Tat. Von denen es in dieser Welt leider zu wenig gibt. In diesen unruhigen Zeiten denkt doch jeder nur noch an sich.
Auf dann!
Auf dass das Beispiel Schule macht.“
„
Was ist da überhaupt drin, in den Kisten?“
fragte Shar'Tel neugierig bevor sie ging.
„
Etwas Wertvolles“
antwortete Bill knapp, damit war das Thema erledigt.
Alyssa, Arkané und Zann waren schon die Straße runter gegangen und warteten nun an einer Kreuzung, um sich von allen zu verabschieden. Man wünschte sich gegenseitig alles Gute und hoffte wieder miteinander arbeiten zu dürfen.
Shar'Tel bleibt orientierungslos stehen.
„
Weißt du schon, wo du heute übernachten wirst?“
erkundigte sich Gregor.
„
Nein, noch nicht. Ich war ja hier noch nie. Kannst Du mir ein Gasthaus empfehlen?“
„
Kommt drauf an, was du möchtest.
Wenn Du einfach nur ein Bett für wenig Geld suchst, dann reicht Dir der 'Stiefel'.
Wenn Du Dir ein Bisschen Luxus gönnen willst, dann ist 'Mantel & Degen' die erste Wahl. Das ist das beste Gasthaus der Stadt.
Wenn Dir jedoch nach Feiern zu mute ist und Du so richtig 'einen drauf machen' willst, dann schlage ich vor, Du gehst in den 'Keller'. Weiß aber nicht, wie sehr Du auf Frauen stehst.“
„
Wieso sollte ich nicht auf Mädels…ach die Art von Frauen meinst du.
Ich nehme 'Mantel & Degen'.“
„
Dann komm mit! Wir kommen daran vorbei.“
Nach einer Weile fragte Shar'Tel:
„
Wo wirst Du heute Nacht sein?“
„
Zu Hause. Bei Frau und Kind.“
„
Du hast Frau und Kind?"
fragte sie ungläubig.
„
…äh ich meine…'tschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein, aber das überrascht mich jetzt schon ein Bisschen.“
„
Ja, das ist in diesem Beruf auch ungewöhnlich. Ich habe ihr gesagt, ich werde selten zu Hause sein, aber sie lässt sich partout nicht davon abbringen, mich zu lieben und zu bekochen.“
Je näher die beiden dem Zentrum der Stadt kamen, desto belebter wurde es. Zu beiden Seiten der Straße reihte sich ein Lokal an das Nächste, dazwischen immer wieder kleine Läden.
„
Eigentlich hatte ich noch vor einen Stadtbummel zu machen, aber ich denke dafür ist es heute schon zu spät.“
In der Tat schlossen die Läden grad, löschten das Licht und senkten die Markisen, während die Kneipen, Lokale und Bars ihre Türen öffneten und Stühle nach draußen stellten. In der lauen Abendluft erhofften sie sich guten Umsatz.
Die Laternen wurden entzündet und tauchten die Stadt mit der untergehenden Sonne in ein rotgoldenes Licht. Messingverziehrungen und Balkongeländer aus Gusseisen übten in diesem Licht einen besonderen Charme aus.
Ein Trupp Soldaten kam an ihnen Vorbei. Neun waren es an der Zahl. Jeder von ihnen trug ein Kettenhemd und die Farbe grün und schwarz – die Farben des Stadtwappens. Vorneweg lieft so etwas wie ein Anführer. Er hatte Kriegshammer und Turmschild und einen Federschmuck am Helm. Dann waren noch zwei mit Gladius und Rundschild dabei, zwei mit Hellebarde, zwei mit Armbrust und Köcher und zwei mit Langstab.
„
Das ist die Stadtwache.“
erklärte Gregor.
„
Die mit den Zauberstäben, sind Schlachtmagier. Solange Du aber keine Dummheiten anstellst, hast Du von denen nichts zu befürchten. Ich weiß nicht, ob Du irgendwelche magischen Fähigkeiten beherrschst, aber Du solltest sie lieber nicht einsetzten. Zaubern ist in der Öffentlichkeit ohne amtliche Genehmigung untersagt.
Die werden uns jedenfalls nicht aus den Augen lassen, so bewaffnet, wie wir sind.“
'Bewaffnet' traf es. Das musste Shar'Tel zugeben. Gregor trug eine Kriegsaxt, einen dreckigen Schild, eine Riesenaxt und einen Bogen mit sich herum. sie slebst war nicht minder bewaffnet. Fünf Kurzschwerter, ein Säbel, ein Dolch und zwei zweihändige Schwerter nannte sie ihr Eigen.
„
Eben. Und deshalb möchte ich das Zeug lieber heute als Morgen verkaufen.“
„
Die Läden sind nun schon alle zu, aber ich gehe mit Dir extra einen Umweg, um Dir zu zeigen wo Du deine Schwerter morgen loswirst.“
„
Hab mich schon gewundert…“
„
Da vorn ist er schon.“
Die Rollladen waren unten, dicke Gitter vor der Tür. An die Hauswand waren prunkvoll Großaxt und Schwert gemalt und ein Schild '
Abenteurers Allerlei' ließ erahnen, was es hier zu kaufen gab.
Anschließend führte Gregor die Kriegerin noch zum Gasthaus 'Mantel & Degen', wünschte ihr eine gute Nacht, viel Erfolg auf der Reise und hoffte auf ein Wiedersehen. Damit machte er sich auf den Heimweg.
Musik und ausgelassene Stimmung in der Taverne drangen an Shar'Tels Ohr. Sie trat ein…