Kapitel 46 – Gefühlschaos
Die schwachen Strahlen der Sonne lassen meine Stahlhaut schimmern, doch sie sind nicht im Mindesten dazu in der Lage, weder mein Äußeres noch mein Inneres zu erwärmen. Meine beste und einzige Freundin ist soeben verschwunden, unwiederbringlich durch gleich welche Anstrengung meinerseits, ob und wann ich sie jemals wiedersehen werde völlig einem ungewissen Schicksal unterworfen. Sie war in den wenigen Tagen, seit ich sie kennen gelernt hatte, zu dem Menschen geworden, dem ich am meisten zu vertrauen gelernt hatte, der ich auch Alles anvertraut hatte, was mein Herz belastete. Dieses Wissen hatte sie mit sich genommen, mir ohne Schuld entrissen durch den Einfluss äußerer Mächte, die ich nicht kenne. Mit ihr verliere ich Jemand, bei der ich als einzige bisher das Gefühl hatte, verstanden zu werden.
Hör doch auf, hier herumzuweinen, das bringt sie sicher nicht zurück und dich keinen Schritt weiter.
Auch der Zweite, wie ich entgegen seiner Worte spüre, beginnt schon jetzt, sie zu vermissen. Der Respekt und die Freundschaft zu Natalya waren unter den wenigen Dingen gewesen, auf die wir uns je einigen konnten; jetzt verbindet uns nur gemeinsame Trauer. Der wichtigste Mensch in meinem Leben wird noch eine Stunde, vierunddreißig Minuten und fünfzehn Sekunden schlafen, tief, fest, traumlos, bevor ihn ähnliche Gefühle wie meine jetzigen erwarten. Ich nehme ihm den Helm ab, lege den Schild in die Hände eines Magiers, der, befehlslos, unbewegt dasteht, und bette den Meister auf seine Decke. Mein Schoß dient ihm als Kissen, gepolstert durch weichen Stoff. Wir werden eine Menge zu bereden haben, nun, da es nur noch uns beide gibt gegen das Böse.
Na ja. Sobald wir den Gidbinn zurückbringen, hat Aschara Unterstützung versprochen.
Stimmt...der Dolch aus fein bearbeitetem Feuerstein liegt in Griffweite. Auch bei genauerer Betrachtung wirkt er keineswegs ungewöhnlich, vom Material einmal abgesehen – eher sogar noch so, als würde er kaum mehr als ein paar Stiche überstehen, bevor die fligrane Klinge bräche. Aber ich weiß um deren Alter – und keine Scharte verunziert das rituelle Instrument. Wie viel Blut wurde hiermit vergossen im Namen einer vergessenen Religion – also ultimativ umsonst? Oder waren die Rituale notwendig gewesen, um die primitive Magie zu rufen, die potent genug war, um immer noch nutzbare Schutzschirme zu errichten – und hatten damit garantiert, dass sich am Ort des zukünftigen Kurasts überhaupt Menschen halten konnten? Waren somit vielleicht die Götter falsch gewesen, aber „ihr“ Wirken dennoch bis in die Gegenwart der Heilsbringer der ganzen Region?
Vielleicht hat auch Endugu in seinem sterblichen Leben schon mit dieser Klinge grausame Opfer gebracht.
Uh...du hast Recht, so oder so klebt auch Natalyas Blut daran. Soll Ormus dafür sorgen, dass ihr Schmerz in unser aller Rettung verwandelt wird.
Du willst doch mit dem Meister reden, sobald er aufwacht, oder?
Ja...?
Dann versteck den Dolch erst im Würfel. Wenn er den sieht, wird er sich garantiert keine Zeit für dich nehmen.
Ich soll, um ein Gespräch über meine Lügen beginnen zu können, ihn anlügen? Die Paradoxität dieses Gedankens sollte dir doch wohl auffallen.
Du müsstest ihm nur verschweigen, dass wir den Dolch bereits haben.
Die Taktik hat mir schon genug Probleme gemacht.
Mach doch, was du willst, aber bereu es dann selbst.
Da du grundsätzlich Nichts bereust, ist mir diese Drohung recht egal.
Langsam vergehen die Sekunden...und doch schneller, als sie sollten. Ich fürchte mich vor dem Gesprüch mit dem Meister, in dem ich versuchen werde, mich zu rechtfertigen, zu erklären, zu entschuldigen...weiß ich doch nicht, wie es ausgehen wird. So viel hängt davon ab, was ich ihm sagen werde...aber egal, wie sehr ich versuche, darüber nachzudenken, meine Konzentration bricht. Der so wichtige Fokus, er entgleitet mir, da mein Geist in Aufruhr ist ob der Ereignisse der letzten paar Stunden.
Und dann kommt noch, dass ich nicht einmal wissen kann, ob er überhaupt mit mir reden, etwas klären will. Vielleicht habe ich seine Freundschaft endgültig verspielt – vielleicht habe ich wirklich Niemanden mehr, der mir vertraut.
Was ist mit Deckard, Meschif, Devak? Gerade letzterer vertraut dir, ihm zu helfen.
Und was nützen mir die hier?
Der Meister sieht so friedlich aus...doch das ist garantiert nicht von Dauer. Ob bald der vorherrschende Ausdruck auf seine Gesicht Trauer oder Wut sein wird?
Zeit vergeht. Da ich mich nicht entscheiden kann ob zu schnell oder zu träge – ist die Dauer dann genau richtig?
Ich sehe, wie kleine samragdene Vögel sich sammeln, um die überall verstreuten und zerfetzten Schinderkadaver zu verspeisen. Der Anblick entlockt mir ein inneres Lächeln. Vor einer Weile habe ich gesehen, wie eine Gruppe der Dämonenpuppen einen dieser Vögel zerrissen; jetzt nehmen sie Rache. Auch Insektenschwärme sammeln sich bereits, manche davon hungrig auf noch fließendes Blut, aber ich scheuche sie vom Meister weg. Es scheint, dass wie schlimm auch immer die Natur von bösen Kräften grausam verzerrt wird, manche Gesetze dennoch gelten: wer oder was auch immer du im Leben warst oder getan hast, wenn du stirbst, bist du Nichts als Futter für die, die du bisher ignoriertest und verachtetest. So zeigt sich, dass die Überlebenden von Kurasts Untergang in der Tat zuletzt lachen – und was für eine Freude die Aasfresser bei ihrer Arbeit haben! Ich könnte ihnen stundenlang zusehen.
Hast du auch. Es ist soweit.
Oh. Und ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll...
Improvisier eben. Ich dachte, das könntest du gut?
Der Meister reißt die Augen auf. Mein Blick trifft seinen. Er zuckt kurz zurück, schüttelt sich, zieht eine Grimasse...dann wird sein Ausdruck völlig leer.
„Golem, bitte erzähl mir in deinen Worten, was gerade passiert ist.“
„Meister, ich...“
„'Meister' mich nicht! Fang an zu reden!“
Nach seinem Ausbruch starrt er weiter ins Nichts. Ich beeile mich, zu gehorchen.
„Wir haben Natalya befreit, die an diesen Pfahl gebunden war...alle Schinder getötet, aber Endugu ist davon gekommen...ihre Rüstung gefunden...dann hat sie uns erzählt, warum sie gefangen genommen worden ist, weil sie überrascht wurde von neuen Befehlen, die sie direkt telepathisch übertragen bekam. Sie müsse sofort aufbrechen, keine Verzögerung möglich, und nachdem sie das gesagt hat, hat sie dich mit einem Gedankenschlag für zwei Stunden schlafen gelegt. Ich...konnte und wollte sie nicht aufhalten, Meister. Sie bittet dich, den Ring als Erinnerung zu behalten...und um Verzeihung. Das...das ist Alles.“
Er bleibt liegen. Es dauert eine Weile, bevor er einen leisen Hauch von sich gibt.
„Sie...sie ist wirklich weg?“
Ich kann nur stumm sein, was soll ich sagen? Das offensichtliche „Ja“...was kann es helfen? Plötzlich springt der Meister auf.
„Verdammt!“
Wut verzerrt seine Miene. Die Option, die ich mir nicht gewünscht habe...aber sie ist...nicht an mich gerichtet? An wen dann?
Gegen Alles und Jeden, vermute ich.
„Das...das kann einfach nicht sein! Nein! Endlich weiß ich, was ihr großes Geheimnis ist, das sie mir nie verraten wollte, ich finde es heraus, Nichts steht mehr zwischen uns...und jetzt soll sie einfach weg sein? Einfach weg?“
Die Skelette beginnen, sich in Reih und Glied aufzustellen. Hiflos hebe ich eine Hand, aber der weißhaarige junge Mann rast. Er fährt sich durch die kurze Frisur, packt seinen Schild, lässt ihn fallen, setzt seinen Helm auf, rückt ihn gerade, hebt den Schild erneut.
„Niemand nimmt mir meine Natalya! Wer auch immer ihre Auftraggeber sind...scheiß auf ihre Auftraggeber! Wir holen sie zurück, Golem, sie muss bei mir bleiben, wir werden glücklich. Und wer etwas dagegen hat, den schicke ich persönlich in die Hölle!“
So viel Aufregung kann nicht gesund sein.
Das stimmt wohl...er dreht völlig durch! Was ist in ihn gefahren?
Oh, ich denke, das ist völlig normal. Du hättest diesen anderen Kerl sehen sollen, als meine Klauen seine Geliebte vor seinen Augen zerrissen. Er schien bereit, das gleiche bei mir mit bloßen Händen zu tun...war eine schlechte Idee.
Du hast was?
„Wo zur Hölle ist mein Stadtportalsbuch? Golem! Hast du es...ah, hier! Wer hat es bitte...egal! KoKo...“
Wenn er jetzt zurück in die Stadt geht, um hinter Natalya herzuhetzen, werden wir nie miteinander reden, nie das Gespräch führen, auf das ich so lange gewartet und das ich so lange gefürchtet habe, womöglich erreicht er sie doch noch, und danach wird er nicht mehr an seine Mission denken, nicht mehr an Sanktuario, und wir werden untergehen...
Er zuckt zurück, als ich den Folianten aus seinen Händen schlage, das blaue Buch landet im Schlamm. Sein Mund öffnet sich in fassungslosem Unglauben und ich sehe, wie seine irrationale Wut sich sofort auf ein bestimmtes Ziel fokussiert.
„Was fällt dir ein!“
Zwei Skelette treten vor, er einen Schritt zurück, den Stab hebend, der in seinem Griff zittert.
„Von allen Leuten auf der Welt...nein, nicht du, ich hab genug von dir, Golem! Das war das letzte Mal, dass du deinen Meister verrätst!“
Wenn er uns jetzt entlässt...!
Nein. Nein, jetzt reicht es mir aber auch. Ich sehe ein, dass ich eine Menge Fehler begangen habe, aber Verrat lasse ich mir nicht vorwerfen. Auch in mir beginnt Zorn hochzusteigen, auf die ganze Situation, auf den Menschen vor mir, der offenbar nicht einmal versuchen will, mich zu verstehen, gesteuert von seinen Gefühlen für eine Frau, die ich genauso vermissen werde wie er, und die ich nicht einmal ansatzweise begreife...ein gewaltiger Schwinger von mir stoppt im Brustkorb des Skelettes links von mir, und es desintegriert um meine Faust. Die rechte zerquetscht einen Totenschädel, und in einer Staubwolke schieße ich nach vorne, den verrückt gewordenen Menschen vor mir am Kragen packend und hoch über mich hebend. Seine Augen werden groß, aber er lässt weder Stab noch Schild fallen.
„Ich würde dich nie verraten, General. Es wird vielleicht mal Zeit, dass du das begreifst.“
Als er brüllt, landen Speichelfetzen auf meinem Kopf.
„Wie nennst du das hier gerade? Setz mich ab, sonst passiert ein Unglück?“
Ein Wächterschlag lässt mich wie eine Glocke widerhallen. Als Antwort schüttele ich ihn.
„Was willst du tun, meinen Luxuskörper entseelen? Das bringt dein Mädchen nicht zurück, das bringt dich nur weiter weg von deiner echten Mission!“
„Sie ist nicht mein Mädchen, ich liebe sie, du gefühlslose Kreatur! Ist deine Beherrschung zu schwach, oder was? Lass! Mich! Los!“
Ein weißliches Leuchten geht von seinem Stab aus...eines, das ich schon kenne.
Oh Mist, verdammter. Hör bloß auf, ihn zu provozieren.
Ich provoziere hier Niemanden! Was kann ich dafür, dass er in jeder Aussage von mir eine Beleidigung seines Riesenegos sieht?
„HelKoThulEthFal!“
Als sich mein Körper verstärkt, spüre ich, wie unsichtbare Fesseln meinen Geist umgeben. Ein wenig dicker sind meine Metallwände gerade geworden, meine Gelenke ein wenig flexibler...aber der Preis...der einzige Grund, weswegen er das gerade getan hat.
Die Stimme meines Meisters wird eiskalt und leise.
„Lass...mich...los...“
Meine Finger schießen auseinander, als ich ein leichtes Kribbeln in ihnen zu beginnen spüre. Er fällt nach unten, mit dem Gesicht knapp an den Dornen auf meiner Brust vorbei. Geschieht ihm Recht, und die Nase voll Schlamm auch! Hat er wirklich gedacht, ich würde ihn ohne eine Extraportion Befehlsgewalt seinerseits nicht loslassen?
Aus gutem Grund! Du reagierst hier auch gewaltig über!
Du sei ganz still! Du verdammtes Monster! Geh doch in das finstere Loch in meinem Geist, aus dem du gekrochen bist!
„Du bleibst also störrisch, Golem? Fein! Wir können das auch ganz anders regeln! Dreh dich um! Heb das Buch auf und bring es mir.“
Gehorsam befolge ich seine Anweisung. Pah, er mag meinen Körper kontrollieren, aber meine Stimme gehört mir!
„Fühlst du dich jetzt stark, oder was? Du bist ein armseliger kleiner Mann! Denkst du, ich habe Natalya nicht gemocht? Denkst du, du allein bist traurig? Für deinen verletzten Stolz, für die winzige Chance, deinen völlig utopischen Traum doch noch erfüllt zu bekommen, setzt du das Schicksal der ganzen Welt aufs Spiel? Tue ich das etwa? Ich habe nur getan, was getan werden musste!“
Du tust das gerade! Bleib ruhig, verdammt!
Sein Finger deutet auf mich, zitternd wie der Stab zuvor. Immer noch kommen seine Worte nur zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
„Du wirst nicht auf diese Art und Weise mit deinem Herrn und Meister reden! Ich erwarte Respekt von dir, etwas, das du in letzter Zeit offenbar komplett verlernt hast! Gibs zu, du bist doch froh darüber, dass Natalya weg ist! Du bist eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die ich ihr gegeben habe und nicht dir. Darum stellst du dich zwischen mich und mein Glück! Nie hätte ich dir freien Willen zugestehen sollen!“
Tränen beginnen unter seinem Helm hervorzufließen. Was redet er da?
„Du ruinierst mein Leben, Golem! Was soll das? Was habe ich dir je getan? Du grausame Kreatur, ich werde dich brechen! Nie wieder wirst du ohne einen Befehl von mir sprechen, Nichts tun, was ich nicht will!“
Bei Diablos Horn, was tut ihr!
„Du redest wirr, General! Hat dich der Verlust deiner ach so großen Liebe in den Wahnsinn getrieben? Das muss es sein, würdest du sonst etwas so Dummes tun, wie du jetzt gerade machst?“
„War mein Befehl etwa nicht klar genug? Sei still und gib mir das Buch!“
Tu es nicht!
Ich weiß, was ich tue! Bezieh mal seinen Befehl auf dich!
Seine Finger berühren den Ledereinband. Meine Hand hält den Folianten fest umschlossen. Plötzlich fließt eine Welle glühender Pein meinen Arm hoch, in den festen Griff der Metallglieder, und ein ohne Muskeln eigentlich unmöglicher Krampf durchzieht mich, während ich von Schmerzen geschüttelt werde.
Aber ich halte es aus. Ich muss es aushalten, denn jetzt werde ich ihm ein für alle mal sagen, was ich von ihm halte. Bald wird sich mein Griff lösen müssen, zu heiß sind die Feuer, die in mir brennen, aber ich werde untergehen mit Worten, an die er noch lange denken wird. Verbissen versucht er, mir den Weg in unser aller Verderben zu entreißen, keine Sorge, bald ist es so weit, aber vorher noch...
„Hört auf, alle Beide! Wo ist euer Fokus? Mephistos Hass wird euch zerstören, wenn ihr ihn nicht zurückgewinnt!“
Das ist doch...schlagartig lässt mein Schmerz nach, als ich mich nicht mehr darauf konzentrieren kann, ihn zu bekämpfen, das Stadtportalsbuch schießt nach hinten, der Meister zwei Skeletten entgegen, die hinter ihm stehen, und ohne Befehl keine Anstalten machen, ihn aufzufangen.
„Wer...wer hat das gesagt?“
Du...
...jetzt habe ich wohl ein wenig überreagiert.
Oh Himmel, was habe ich gerade sagen wollen?
He, wir denken das genau Gleiche, nur du bist wie üblich langsamer dabei als ich.
„Meister! Es tut mir Leid! Ich weiß nicht, was...gut, ich weiß genau, was...aber...“
Meine Hand streckt sich ihm entgegen, völlig perplex ergreift er sie. Als er auf die Beine kommt, beginnt eine tiefe Röte seine Wangen zu erfüllen. Scham. Die gleiche, die ich auch fühle.
„Golem...ich hätte das nicht tun sollen...“
Ja, das hättest du wirklich nicht!
Nein, nein, nein, Golem, Fokus, Fokus! Er...er kann Nichts dafür, es ist nur der Hass dieses Dschungels, fast hätte er uns gekriegt. Fast...er ist immer noch da. Um uns herum. Fooookus.
„Meister...der Hass...wir haben beide Dinge gesagt und getan, die wir nicht hätten sagen oder tun sollen. Nicht einmal daran denken. Es...war nicht deine Schuld.“
„Nein. Es war nicht meine Schuld. Auch nicht deine. Wir beide...wurden nur ausgetrickst vom Bösen. Wir müssen...die letzten Minuten vergessen.“
Er bemüht sich, bewusst langsam und ruhig zu atmen. Ich halte mich völlig still, versuche, nicht den kleinsten Teil meines Körpers zu bewegen. Still treffen wir diesen Pakt: Was gerade geschehen ist, kann nicht wieder enthört werden, aber bevor wir uns erneut an die Kehle gehen, müssen wir so tun, als hätten wir nie etwas gehört.
Ganz vorsichtig, ganz langsam legt sich seine Hand auf meine Schulter.
„Es wird wieder gut. Egal, wie oft du mich angelogen hast, egal wie...gah! Himmel, Golem, ich bin so durcheinander...warum lasse ich meine Verwirrung an dir aus? Das ist doch nicht fair.“
„Meister...“
Plötzlich sinkt er gegen mich, seine Arme um mich schlingend. Ich bemerke, wie sich mein Stahlpanzer stellenweise ganz leicht erwärmt, als frei laufende Tränen daran herabrinnen.
„Natalya! Sie ist weg, Golem, sie ist weg! Warum? Warum jetzt? Was soll ich denn ohne sie machen?“
Stumm und stoisch stehe ich da, während er schluchzt, eine Stütze für ihn nur aus einem Grund: Ich kann nicht weinen, sonst wären wir in diesem Moment darin vereint, und ich weiß nicht, für wie lange wir uns in geteilter Verzweilfung verlieren würden. So versiegt irgendwann die Quelle seiner Augen, und ich muss stark sein für ihn, sonst sänke er zu Boden, am selbigen zerstört.
Schließlich löst er sich von mir. Ich habe Angst davor, was er sagen wird.
„Golem...sag die Wahrheit. Dieses Mal wirklich. Ich hatte nicht Recht, oder? Du hast mich gerade nicht nur aufgehalten, weil du Angst hattest, dass ich dich nicht beachten würde, wenn ich Natalya zurückgewinnen würde? Du bist nicht eifersüchtig auf unsere Beziehung gewesen?“
Etwas in mir atmet tief durch, und ich stelle fest, dass wir das beide gleichzeitig waren.
„Nein, Meister. Du hattest nicht Recht. Im Gegenteil, wenn ich auf etwas eifersüchtig war, dann darauf, dass du so viel von Natalyas Zeit eingenommen hast.“
Er stutzt.
„Was?“
Das...das stimmt wohl...aber warum habe ich das so deutlich gesagt?
Er wollte, dass du die Wahrheit sagst. Also hast du es getan.
Oh, zur Hölle mit der Beherrschung! Aber was solls. Ich hebe meinen Blick zum Himmel, Hilfe suchend, von der ich nicht weiß, ob sie je kommen wird, und stürze mich Kopf voraus in eine ungewisse Zukunft, geformt durch jedes neue Wort, das mich verlässt.
„Ich kannte Natalya länger als du, Meister. Während du noch krank warst, habe ich sie im Dschungel getroffen, in ihrer Rüstung kämpfend – sie hatte den Helm zunächst ab, darum wusste ich auch später, wer sie war...“
Und so erzähle ich ihm Alles. Ich lasse kein Bisschen aus von dem, was er bisher nicht wissen durfte, da unsere gemeinsame Freundin mich zum Schweigen verpflichtet hatte. Endlich kann all das...bis auf eine Kleinigkeit...aus mir heraus sprudeln – der Zwang zur Wahrheit die größte Befreiung, die ich verspüren durfte, seit er wieder auf den Beinen ist.
„...und deswegen war ich natürlich die ganze Zeit, als du an das Bett gefesselt warst, alleine mit den Skeletten im Dschungel.“
Sein Ausdruck wirkt entsetzt.
„Du warst fast kaputt danach, und alle Skelette! Das muss die reinste Hölle gewesen sein – und du bist da alleine hineingegangen? Freiwillig? Nur, um Natalyas Geheimnis zu wahren?“
Hilflos hebe ich die Arme.
„Mir ist nichts Besseres eingefallen! Sie hatte das Ganze geplant! Ich weiß, wie blöd das war, ich hätte fast Alles aufs Spiel gesetzt, meinen teueren Körper verloren, aber ich hatte solche Angst, dass du herausfindest, dass ich dich angelogen hatte, als ich nicht gesagt habe, dass ich 'Tees' bereits unter anderem Namen kenne...wie es später ja viel schlimmer gekommen ist...“
Er hebt die Hand.
„Halt, halt. Keine Vorwürfe, Golem. Ich war nur so überrascht...du hast das nur getan, weil Natalya dich darum gebeten hat? Du hast sie wirklich sehr gemocht...und du hast das durchgehalten, ohne ein Wort zu sagen...beeindruckend. Einfach nur beeindruckend.“
Was soll ich dazu sagen? Ich hätte Alles erwartet, aber kein Lob...
„Erzähl, was passiert ist, als du alleine warst!“
Das nimmt mir das Formulieren einer Antwort ab, die ich ohnehin nie zustande gebracht hätte. Während ich meine Erfahrungen mit den Seelen schildere, unterbricht er mich nicht, höchstens durch ungläubiges Kopfschütteln, aber ich sage Nichts als die Wahrheit. Als er auch danach keine Anstalten macht, mich zu unterbrechen, rede ich weiter, immer noch offen legend, was er nicht wusste, mein Solobesuch bei Aschara, von dem ihn die Details noch mehr zum Staunen bringen...
„...wirklich, du kamst mir völlig verwirrt vor von Natalya! Du hast fast nur noch von oder mit ihr geredet, warst abgelenkt, ich hatte die schlimmsten Befürchtungen und wollte nicht zugeben, dass ich die hatte, weil du so glücklich schienst. Deswegen habe ich die Sache selbst in die Hand genommen, deswegen habe ich in deinem Namen gehandelt, aber ohne Befehl von dir.“
„...und alleine diese tödliche Schlange konfrontiert. Völliger Wahnsinn. Aber ich verstehe deine Verwirrung nicht...natürlich habe ich viel über Natalya nachgedacht...mache ich ja immer noch...diese Frau hat mir wirklich den Kopf verdreht. Aber deswegen vergesse ich doch nicht unsere Aufgabe! Das Ausmaß deiner Besorgnis kann ich nicht nachvollziehen...aber erneut, ich muss meinen Hut ziehen vor dem Mut und der Hingabe, mit der du an deinen eigenen Plan gegangen bist.“
Jetzt kann ich eine Antwort einwerfen.
„Der Mut der Verzweiflung vielleicht, Meister!“
Er lacht kurz.
„Auch da scheitern Viele. Aber erzähl weiter...jetzt, wo ich schon so viel weiß...hattet ihr noch irgendwelche Geheimnisse, die ich im Nachhinein erfahren kann?“
Seine Neugierde ist unersättlich...
Er will sich ablenken.
...dann werde ich das tun. Ich rede endlich zu Ende. Längst sitzen wir uns gegenüber auf dem Boden, er hat die Möglichkeit eines Knochenthrons völlig vergessen.
„...und darum glaube ich, dass wir uns gar nicht so verschieden fühlen können! Sie war so wichtig für mich, weil sie meine Probleme verstanden hat, mir geholfen hat, als du einmal nicht da warst, und als wir uns immer weniger vertrauten, weil du nicht Alles wissen durftest und ich nicht Alles wissen konnte, hat sie uns beide zusammen gehalten...ich wollte nicht, dass wir zu streiten beginnen, wirklich nicht! Aber...sie wird mir unglaublich fehlen...und du warst schon wieder drauf und dran, mich nicht zu verstehen...“
Er schüttelt den Kopf.
„Golem, aber ihr wart nur gute Freunde. Ich habe sie doch geliebt! Ich dachte, du wolltest meine Liebe in Frage stellen...“
Ich habe Mühe, die nächsten Worte zu formen.
„Wie denn, Meister? Ich weiß doch gar nicht, was Liebe ist!“
Sein Gesicht entgleist. Er hält sich eine Hand vor den Mund. Was...was habe ich gesagt, das ihn so geschockt hat?
„Du...du weißt das nicht? Oh Himmel, was bin ich bitte für ein Arschloch!“
Er sieht mir nicht mehr in die Augen.
„Aber Meister...“
„Nein, Golem, nenn mich nie wieder so, ich bin es nicht wert. Unglaublich. Natürlich kannst du das nicht wissen, wie auch? Wie kann Jemand, den man nie geliebt hat, dieses Gefühl kennen? Und du...du bist nicht einmal menschlich...wie sollst du es je verstehen...nein, wie grausam. Wie grausam ein Zauber, der ein denkendes, fühlendes Wesen erschafft, das keine Liebe kennt.“
Er übertreibt. Ich bin immer gut ohne zurecht gekommen. Und mein Meister auch.
Wird man ohne Liebe denn etwa zu Jemand wie dir?
„Aber das muss doch nicht so bleiben. General. Durch dich habe ich doch auch erst richtig gelernt, was Freundschaft bedeutet. Warum solltest du mir nicht auch die Liebe erklären können?“
„Graue Theorie...“
Da strafft er sich, beißt die Zähne zusammen und schlägt mit seiner Faust in die andere Handfläche.
„Egal. Vergiss meine Bedenken. Ich bin dein Meister, und ich werde ein guter Meister sein, wie ich hoffe, wieder ein guter Freund sein zu können. Also wirst du von mir lernen, was nicht gelernt werden kann. Ich werde dir erzählen, was Liebe ist, so gut wie ich das kann...als Jemand, der selbst selten geliebt wurde...“
Er schluckt.
„Das könnte eine Weile dauern.“
Er möchte mein Freund sein...
Das wird ein Desaster...
Sei still! Er will wieder mein Freund sein!
Ich springe auf, und bevor er weiß, wie ihm geschieht, habe ich meine Arme um ihn geschlungen.
„Oh, ich will auch wieder dein Freund sein, General. Ein guter Freund. Sag mir, was ich tun muss, und ich werde es tun. Wir halten zusammen! Wir besiegen das Böse! Und du erklärst mir die Liebe!“
Endlich, als ich ihn loslasse, sehe ich ihn mich angrinsen...aber es ist ein bitteres, schiefes Lächeln.
„Ich muss dich warnen, Golem. Je mehr du über das Wunder der Liebe lernen wirst, desto mehr wirst du dich auch danach sehnen...aber ich fürchte, es wird fast unmöglich für dich sein, solche wirklich zu erfahren. Ich kann dir das ersparen und dich in Unwissenheit lassen, sie könnte ein Segen sein.“
„Nein, General! Ich muss das Phänomen zumindest theoretisch verstehen...die Liebe, sie hat eine größere Macht als selbst die Magie, und auch diese verstehe ich noch zu wenig, obwohl ich sie ständig erfahre. Wozu sie die Menschen treibt...ich muss es begreifen! Ich muss es wissen!“
Er seufzt.
„Du bist schon immer neugieriger gewesen, als gut für dich ist...ich warne dich erneut. Vielleicht bin ich auch ein grauenhafter Lehrmeister. Vielleicht wirst du es durch meine trockene Erklärung nie verstehen!“
„Und wenn es ewig dauert...Wissen mag schmerzen, aber Unwissen ist tödlich.“
He, ich muss zugeben, zumindest darauf neugierig zu sein, wie sehr er sich dabei anstellt, die richtigen Worte zu finden, aber bevor es wirklich ewig dauert...du weißt schon noch, wen ich gerade daran gehindert habe, euch aufeinander losgehen zu lassen – und warum dieser Jemand das wollte?
Oh, verdammt. Wenn ich dich nicht hätte...
...habe ich das wirklich gerade gedacht?
„Moment, General. Ich fürchte, bevor wir noch länger reden können, so sehr ich mich darüber freue, dass wir das wieder tun, gibt es etwas sehr, sehr Wichtiges zu erledigen, was nicht nur uns beide betrifft, sondern viel mehr Menschen.“
Sein Finger schießt hoch, als er sofort auf die Antwort kommt. Was meinen großen Denkfehler erneut offenbart, der schon dazu führte, dass ich alleine versuchte, Ormus und Hratli zu versöhnen...egal, wie sehr er gerade an Natalya denkt, seine Mission vergisst er allerhöchstens unter dem Einfluss böser Mächte.
„Wir brauchen den Gidbinn.“
Mein Finger spiegelt seinen.
„Eine Sekunde.“
Eine kurze Suche später fällt mein Blick auf Feuerstein. Fasziniert folgt er der Klinge mit den Augen, als ich sie in die Sonne hebe.
„Bitteschön.“
Dieses Mal ist das Lächeln breit und echt – und ich vermute teilweise auch dadurch motiviert, dass er eine Entschuldigung hat, mit seiner Lernstunde erst später beginnen zu können.
„Du bist der Größte, Golem. Lass dir nie etwas Anderes einreden, weder von Jemand anderem noch von mir. Du. Bist. Der. Größte.“
Er lässt sich von mir den Dolch geben, dann hebt er ihn hoch in die Luft.
„Siehst du das, Mephisto? Siehst du das? Diese Klinge stoße ich durch deine nach Kurast greifende Hand. Bis auf den Knochen schneidet sie in dein Fleisch! Sie wird deinen Hass zurückstoßen, auf dass er in dein finsteres Herz fahre und dieses sich selbst zersetze! Dies ist der erste Schritt zu deiner Vernichtung, und deine Brüder werden mit dir untergehen!“
Er lacht, lauter, als es Freude hervorrufen könnte, schriller, als dass es nur Erleichterung sein kann; sein Herz ist voll Trauer, wie meines, das kann kein Teilsieg ändern, gleich wie wichtig. Doch wir wissen beide, dass wir den Hass in unseren eigenen Herzen besiegt haben, ein für alle Mal. Natalya und damit seine Liebe mag verschwunden sein, aber durch das Ende ihrer Geheimnisse ist unsere Freundschaft zurück, stärker denn je.
Und nun liegt es an ihm, den Mut zu finden, ein Gespräch zu beginnen, das er offenbar fürchtet und sich gleichzeitig herbeisehnt. Sollte es mir ähnlich gehen? Nein...ich weiß, manchmal geschehen die Dinge einfach. Als ich vor weniger als einer Stunde zu sprechen begann, die Wahrheit endlich ans Licht kam, zögerte ich keine Sekunde, trübte kein Zweifel meine Gedanken. Nicht wegen der oktroyierten Beherrschung; weil ich instinktiv wusste, es war das Richtige, und egal, was dabei herauskommen würde, ich musste es einfach tun.
Als sich das Stadtportal öffnet, sehe ich noch einmal nach oben. Der Himmel zieht sich zu; Wolken beginnen, die Sonne zu verdecken. Es wird bald wieder regnen. Hat mein Flehen Gehör gefunden? Vielleicht waren es wirklich höhere Mächte, die auf mich Acht geben, die dafür sorgten, dass ich die richtigen Worte gefunden habe. Wenn ja – dann Danke. Wem auch immer, vielen, vielen Dank. Für das Geschenk, das unsere wiedergefundene Freundschaft ist.